Eine Fußballweltmeisterschaft ist pures Drama. Männer weinen in der Öffentlichkeit. Fernsehschauende Arbeitnehmer bringen zur Bürozeit die Wirtschaft in Schwierigkeiten. Bäcker locken ihre Kunden mit mehrstöckigen Fußballtorten.
Beim so genannten Public Viewing – einem gemeinsamen öffentlichen Schauen – treffen sich Fans aber auch ganz normale Interessierte, um miteinander ein Spiel anzusehen. Sie fiebern gemeinsam für oder/und gegen eine Mannschaft. Sie jubeln, trauern, fallen sich in die Arme. Dieses Gruppengucken schafft ein sehr vertrautes Miteinander. Besonders stark kann so eine Gruppe werden, wenn es einen Schuldigen gibt, der aus ihrer Sicht dafür verantwortlich ist, dass die geliebte Mannschaft verliert. Zum Beispiel der Schiri.
Oder Jogi Löw.
Ein gemeinsames „Feindbild“, eine gemeinsame Meinung für oder gegen etwas, verbindet und stärkt. Es sind hochemotionale Situationen, in denen diese Meinung dann auch die einzig wahre ist. Die Gruppe ist blind für andere Ansichten. Es kann nicht sein, dass es auch andere Gründe dafür gibt, dass das Team verloren hat. Das ist vom Thema Fußball übertragbar auf andere gesellschaftliche Felder, insbesondere auch auf Politik.
In der Psychotherapie ist dieses Phänomen „im Kleinformat“ in der Gruppentherapie zu beobachten. „Wenn es dem Therapeuten gelingt, den Gruppenmitgliedern zu vermitteln, dass es auch andere Sichtweisen neben dieser einen gibt, dann entsteht eine ganz neue Qualität des Miteinanders“, sagt Dr. Hans-Martin Rothe. Er ist Chefarzt der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie im Städtischen Klinikum Görlitz und machte genau dieses Thema kürzlich zum Mittelpunkt einer Fachtagung. „Unsere Gesellschaft ist komplexer geworden und auf verschiedenen, insbesondere auch auf politischen Ebenen, kommt es dazu, dass Gruppen, die unterschiedliche Meinung haben, nicht mehr miteinander sprechen.“ Seiner Ansicht nach muss unsere Gesellschaft eine reifere Kommunikationsfähigkeit entwickeln. Das geht nicht einfach so. Vielmehr beginnt es bereits in der Schule oder auch zu hause. Schon Kinder sollten lernen zu akzeptieren, dass andere Menschen Dinge anders sehen und beurteilen. Dies trägt zur Toleranzentwicklung bei.
Bei Menschen mit bestimmten Persönlichkeitsstörungen ist genau dies der Knackpunkt. Sie sind nicht in der Lage zu einem Perspektivenwechsel hinsichtlich der eigenen Person und Situation aber auch Anderen gegenüber. Kommen Emotionen wie Angst und Unsicherheit dazu, verfestigen sich die Meinungen oft noch, denn das gibt Sicherheit für den einzelnen aber auch für gesellschaftliche Gruppen. Zudem führt emotionale Verunsicherung oft zur Tendenz alles zu vereinfachen. „Das ist zum Beispiel der Fall, wenn die Flüchtlingspolitik für alles, was in Deutschland nicht gut läuft, verantwortlich gemacht wird“, sagt Dr. Rothe. Jeder Mensch, jede Gruppe hat seine eigene berechtigte Perspektive, aber es gibt auch andere und vor allem gibt es mehrere Interpretationsmöglichkeiten von Dingen.
In der Behandlung von Menschen mit Persönlichkeitsstörungen versuchen die Therapeuten, den Patienten zu ermöglichen, wahrzunehmen und zu akzeptieren , dass es auch andere Perspektiven gibt. „Wenn sie mit ihrer Wahrnehmung reflektiert umgehen, dann können sie auch wieder in der Lage sein, im Leben gut zurechtzukommen“, sagt Dr. Rothe. Humor kann dabei auch eine Rolle spielen, indem man sich einfach einmal nicht allzu ernst nimmt oder sogar über sich lachen kann. Diese Fähigkeit ist für manche Menschen große Kunst.
Nach dem WM-Aus von Deutschland lachen sicher nur „die Anderen“, also diejenigen, die sagten, dass unsere Spieler es nicht verdienten weiterzukommen, weil sie zu schlecht spielten, oder diejenigen, die für Südkorea waren, oder alle anderen, die es anderen gönnen. Und es gibt diejenigen, die trösten und Mut machen für die EM 2020. Und wer in der Lage ist, die Perspektive eines Anderen einzunehmen, wird auch für Jogi Löw sicherlich nicht nur negative Kritik übrig haben.
Info: Das 8.Psychosomatische Symposium „Ich sehe was, was du (so) nicht siehst“ fand im Juni 2018 statt.