
Ein Gespräch mit Bestsellerautorin Heide Fuhljahn über Gewicht und Selbstwert
Was hat Sie dazu bewogen, das Buch „Allein unter Dünnen“ zu schreiben?
Ich wollte nicht eine von 83 Millionen Bundestrainerinnen sein! Also auf dem Sofa hocken, meckernd auf andere zeigen und alles (angeblich) besser wissen. Das Gewicht, Schönheitsideale und seelische Gesundheit belasten mich, seitdem ich zwölf Jahre alt bin. Als Erwachsene habe ich dann zunehmend begriffen, wie wenig sie persönliche und wie sehr sie gesellschaftliche Ursachen haben. Mehrgewichtige sind eben nicht einfach faul! Als Journalistin und Autorin lag es für mich nahe, ein Buch darüber schreiben zu wollen, welches die Gründe und die Folgen von starkem Übergewicht auf verständliche Weise thematisiert – nicht akademisch, aber fundiert. Auch war es mir wichtig, nicht nur den Status quo der Theorie aufzuschreiben, sondern mich– stellvertretend für die Lesenden – Mutproben zu stellen, mit der Hoffnung, dass sie mir das Leben leichter machen und andere möglicherweise stärken. In der Mischung aus 14 Mutproben, meinem Alltagserleben und dem medizinischem, soziologischem und psychologischem Wissen fand ich eine Lücke im Buchmarkt, um dieses Thema neu aufzuschreiben.

Fühlen Sie sich heute, nach der Veröffentlichung des Buches, besser?
Ja, in mehrerer Hinsicht, so habe ich richtig viel Genuss hinzu gewonnen! In meinem Leben ist aber trotzdem nicht alles Zuckerguss und prima, es ist eben nicht egal wie man aussieht. Doch ich habe erkannt, wie existentiell Scham lähmt und – denn keine Scham existiert ohne die Bewertung der anderen – gerade Frauen klein hält. Durch meine Auseinandersetzung mit den Auslösern (wie überzuckerte Lebensmittel, wenig Einkommen und harte Arbeitsbedingungen) plus den Mutproben schäme ich mich jetzt weniger. Es war ein befreiender Prozess. Aber es bleibt ein langer Weg, denn Übergewicht ist eine Last.
FKK-Strand, Bauchtanz, ein Selbstverteidigungskurs, eine queere Party in Berlin, Sporturlaub auf Fuerteventura … warum haben Sie sich gerade für diese Mutproben entschieden?
Auch aus meiner langjährigen Psychotherapie wusste ich, dass bloßes Nachdenken und Verstehen nicht reicht, um meine Wahrnehmung von mir nachhaltig zu ändern. Daher musste ich handeln. Nur kognitiv zu begreifen, dass ich mich in beim Yoga am Strand, neben Influencerinnen oder auf einer Ü-40 Party trotz starkem Übergewicht frei und wohl fühlen darf, reicht nicht, um mich besser zu fühlen. Als Journalistin gehe ich an Projekte immer mit einer Mischung aus Recherche und Kreativität heran. So habe ich mir überlegt: Was würde mir Spaß machen? Womit kann ich mich herausfordern? Und was könnte mich stärken? So sind die Ideen für die konkreten Selbstversuche entstanden.
Wie haben Sie es geschafft, in „Allein unter Dünnen“ eine Balance zwischen Humor und den bedrückenden Fakten zu finden?
Ja, es war ein Balanceakt, aber zum Leben gehört beides und das Neugierige, Entdeckende macht schwere Themen erträglicher. Denn es war eine bittere Erkenntnis, dass vor allem Menschen mit wenig Geld, wenig Chancen und solche, die seelisch krank sind, an Übergewicht leiden. Und dazuwird ihnen oft die alleinige Verantwortung dafür zugesprochen, Stichwort „zu faul“. Das ist ungerecht und hilft den Betroffenen nicht. Die Mutproben haben mir geholfen, parallel dazu eine Leichtigkeit und für die Lesenden Ideen zu entwickeln.
Machen Sie noch Diäten?
Nein. Zum einen weiß ich aus Praxis und Theorie, wie wenig sie langfristig bringen. Zum zweiten habe ich die letzten 15 Jahre an einer Binge-Eating-Störung gelitten, und die geht leider mit unkontrollierten Fressattacken einher. Ich hätte nie die Vorgaben einer Diät einhalten können. Heute esse ich außer Stevia und Obst keinen Zucker, Honig und ähnliches mehr und esse nicht nur gesund, sondern vor allem lecker. Dabei hat mir auch der Kochkurs bei Verena Lugert geholfen, den ich für „Allein unter Dünnen“ gemacht habe; Verena Lugert ist Journalistin und Profi-Köchin und schreibt für spiegel.de die Kolumne „Nervennahrung“. Kaum ein Wort passt besser, dass habe ich auch im Interview mit dem Psychoanalytiker Dr. Michael Dümpelmann gelernt.
Es gibt ja auch andere Möglichkeiten, abzunehmen – z. B. eine Magenverkleinerung oder seit neuestem die so genannte Abnehmspritze. Sind das keine Optionen für Sie?
Es ist gut, dass Sie das fragen. Es klingt so einfach, doch tatsächlich ist eine Magenoperation ein sehr großer Eingriff in ein gesundes Organ. Diese Operation birgt etliche Risiken und löst oft andere Krankheiten aus, darüber ist in der breiten Öffentlichkeit nicht genug bekannt. Und Menschen wie ich, die an einer Binge-Eating-Störung leiden, haben ohnehin keine Indikation dafür. Die „Abnehmspritze“ würde ich mir sehr, sehr wünschen, doch ich kann sie mir, wie viele, die sie bräuchten, schlichtweg nicht leisten.
Übergewicht ist also ein soziales Problem?
Das stimmt, vor allem Adipositas. In Deutschland gilt über die Hälfte der Bevölkerung als übergewichtig, wobei ein BMI zwischen 25 und 30 dafür keine ausreichende Diagnostik ist! Dünne können an Bluthochdruck, einer Fettleber oder Krebs leiden, Dicke sportlich und fit sein. Ohnehin sind die Ursachen von Adipositas komplex. Es geht nicht nur um die Ernährung oder Bewegungsmangel. Kliniker:innen und medizinische Fachbücher beschreiben es eindeutig: es braucht Akzeptanz und vor allem gezielte Präventions- und Behandlungsansätze, die diese sozialen Nachteile berücksichtigen.
In Ihrem Buch geht es nicht nur um Äußerlichkeiten. Sie schreiben auch über weitere, oft marginalisierte Gruppen, wie Menschen mit Behinderung, mit Wurzeln in anderen Ländern, Alte, Arme oder LGBTQIA+. Wie kam das?
Bei der Recherche für das Konzept des Buches ist mir schnell klar geworden, dass der Einfluss darauf, ob Menschen sich schämen oder benachteiligt werden, auch bei diesen Gruppen groß ist. Deshalb sind sie ein elementarer Bestandteil. Mit der Erkenntnis, dass wir, wenn wir uns zusammenschließen, gemeinsam stärker werden.
Sie bezeichnen sich in diesem Zusammenhang als „weiße Frau“. Was meinen Sie damit?
In den letzten Jahren habe ich einiges über Rassismus gelesen und gelernt, dass „weiß“ und „schwarz“ nicht nur Hautfarben beschreiben, sondern auch soziale Konstrukte, die mit Privilegien und Macht verbunden sind. Weltweit! Ein kleines Beispiel: es wird meist von „Afroamerikanern“, aber nicht von „Euroamerikanern“ gesprochen. Weißsein bringt oft Vorteile mit sich, die manchen nicht bewusst sind, daher wollte ich darauf eingehen. Am eigenen Leib erfahren habe ich es bei meiner Recherche für das Buch in Vietnam. Wildfremde sprachen mich begeistert auf der Straße an und wollten ein Selfie mit mir, nur wegen meiner hellen Hautfarbe. Weiße Männer haben aber auch dort einen höheren Status als weiße Frauen.
Wie ist die Resonanz auf Ihr Buch?
Vor allem Leserinnen schreiben mir, dass sie sich in meinen Erfahrungen wiederfinden und sich verstanden fühlen. Und es gibt einen starken Schulterschluss, besonders bei Lesungen, wie kürzlich in Wismar. In einem wertschätzenden Miteinander haben wir uns über prägende Erlebnisse ausgetauscht. Mobbing und Abwertungen kennen leider die meisten Frauen.
Sehen Sie in der Body-Positivity-Bewegung einen echten Mehrwert?
Ja, sie ist ein Segen! Social Media hat dazu beigetragen, dass wir mehr Diversität sehen als in den analogen Medien oder in der Werbung. Wir können uns zeigen, wie wir sind, selbstbestimmt. Mit Schwangerschaftsstreifen oder im Rollstuhl. Es ist wohl das demokratischste Medium, das wir haben; neue Plattformen, auf denen unterschiedliche Menschen und Körper sichtbar werden, dass ist unglaublich wertvoll.
Was möchten Sie Menschen mit auf den Weg geben, die sich in ihrem Körper unwohl fühlen oder unter gesellschaftlichem Druck stehen?
Es kann enorm hilfreich sein, sich zu vernetzen! Das ist heute glücklicherweise wesentlich einfacher als früher. Es gibt für fast alles eine Gruppe, und sei es nur online. Sich mit anderen auszutauschen, die ähnlich denken und fühlen, kann unglaublich stärkend sein. Denn allein gegen die Welt zu kämpfen, ist eine zu große Aufgabe. Aber wenn man sich mit anderen verbindet, kann man gemeinsam mehr bewirken. Das gibt Kraft!
Veranstaltungshinweis:
Heide Fuhljahn liest am 17. Oktober im Klinikum Görlitz aus ihrem Buch „Allein unter Dünnen“.
Ort: Konferenzzentrum
Beginn: 17:30 Uhr
Eintritt frei.